Dr. Mike Mews Orthotropics, ein neues Konzept in der Kieferorthopädie
Dr. Mike Mew, ein Kieferorthopäde in zweiter Generation aus London spricht zum ersten Mal in Deutschland auf der ICCMO Jahrestagung am 5.-7. März 2020. Dabei stellt er ein neues Konzept in der Kieferorthopädie vor, das er "Orthotropics" nennt. Zur Einstimmung, worum es dabei geht und was Teilnehmer an diesem sicher hochinteressanten Workshop erwartet, folgt ein kurzes Interview mit ihm, zuerst die deutsche Übersetzung von Frau Wolfgarten, die auch seinen Vortrag übersetzen wird, darunter das Original in Englisch.
Interview mit Mike Mew (MM) von Rainer Schöttl (RS) 2019
RS: Der Titel, den Sie für Ihren Vortrag gewählt haben, lautet: "Warum Zähne schief wachsen, warum wir sie gerade biegen und warum sie nicht gerade bleiben". Konventionell betrachtet, ging man davon aus, dass schiefe Zähne die Folge von Engständen aufgrund einer Diskrepanz zwischen der Zahngröße und der Zahnbogengröße sind. Da man annahm, dass dies genetische Ursachen hat, wurde als Lösungsansatz vorgeschlagen, dem benötigten Platz entsprechend viele Zähne zu entfernen – in der Regel zwei oder vier Prämolare -, um den Platzmangel zu beheben. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Ansatz von diesem? Wieso wachsen Zähne schief?
MM: Wir sehen das Problem ganz woanders. Studien haben gezeigt, dass noch vor 1000 Jahren bei fast allen Menschen, bei denen alle 32 Zähne vorhanden waren, diese auch funktionstüchtig waren. Gewöhnlich war auch erheblich mehr Platz hinter den Weisheitszähnen vorhanden. Es ist notwendig, dass wir verstehen, warum ein derart tiefgreifender Wandel stattgefunden hat. Bei vielen ist nicht nur zu wenig Platz für die Prämolaren, sondern auch zu wenig Platz für die Weisheitszähne vorhanden. Es liegt kein glaubwürdiger Beweis vor, der belegt, dass genetische Veranlagungen die einzige Ursache dieses Wandels sind. In der Medizin geht es nun einmal darum, die Ursachen eines Problems zu behandeln. Zwei Gründe, die wohl am wahrscheinlichsten sind, sind zum einen ein gesunkener Kauaufwand und zum anderen eine Veränderung der Zungen-, Wangen- und Kieferhaltung. Wir sind von einer sehr festen, kalorienarmen Nahrung übergegangen zu einer sehr weichen (oft auch flüssigen), kalorienreichen Nahrung. Nicht zuletzt verbrauchen wir grundsätzlich weniger Kalorien als früher. Vor 10.000 Jahren bedurfte es noch eines erheblichen Kauaufwands, um 100 Kalorien zu sich zu nehmen. Heute hingegen nehmen wir weitaus mehr als 100 Kalorien mit einer Dose Cola oder einem Latte Macchiato zu uns, ohne dabei auch nur einmal kauen zu müssen. Entsprechend dem Motto: „Use it or loose it.“ Zudem erlebten wir einen schon fast Epidemie artigen Ausbruch von Allergien und chronisch verstopften Nasen. Es ist so gut wie zum Normalfall für Kleinkinder geworden, dass ihre Nase über mehrere Tage verstopft ist, sogar schon während des ersten Lebensjahres. Wenn man nicht durch die Nase atmen kann, hat man zwei Möglichkeiten: Entweder, man löst die Zunge vom Gaumen und öffnet den Lippenschluss, um durch den Mund zu atmen, oder man erstickt. Wenn jemand also über längere Zeit 1) eine gesenkte Position der Zunge aufweist und 2) seine Lippen nicht mehr vollständig schließt, während 3) die Kaumuskulatur abgenommen hat, kommt es zu einer Verlängerung des Gesichts. Beobachten Sie einmal eine Person nach einem Schlaganfall. Selbst bei jemandem, der über 80 ist, kommt es zu einer Verlängerung der betroffenen Gesichtshälfte. Und dabei ist ausschließlich die mimische Muskulatur betroffen. Das Gesicht hat eine bestimmte Masse. Wenn das Gesicht nach unten hin länger wird, dann wird es auch schmaler und flacher. Zudem wird die Fläche der quergestreiften Muskulatur kleiner und dadurch schrumpft der Platz für Zähne, Zunge und Atemwege. Im Detail ist es noch etwas komplizierter, in der Quintessenz jedoch ist das die Ursache von Zahnfehlstellungen und Problemen der Atemwege. Da davon jeder bis zu einem gewissen Grad betroffen ist, ist dies oft schwer erkennbar.
RS: Dass Zähne auf ausgeübte Kräfte reagieren indem sie sich bewegen, wird als Grundprinzip der Kieferorthopädie begriffen. Was glauben Sie, warum die Weichteile im und um den Mund herum als Ursache solcher Kräfte über so viele Jahre hinweg ignoriert wurden?
MM: Das Fachgebiet der Kieferorthopädie ist seit langem von einigen wenigen charismatischen Persönlichkeiten bestimmt worden. Angle und Fränkel sind wohl die polarisierenden Namen, die an dieser Stelle zu nennen wären. Angle benutzte eine mechanische Apparatur, um die Zähne direkt in Normalstellung zu bringen und Fränkel benutzte Apparaturen, um die Balance zwischen den Weichgeweben so zu verändern, dass die Zähne sich auf natürliche Weise richtig ausrichten konnten. Gleichzeitig wurde damit aber auch eine Veränderung der Funktion und Haltung der Zunge, der Wangen und des Kiefers bewirkt. Fränkel ging noch weiter, indem er darauf hinwies, dass man durch das Anspannen der Kaumuskulatur beim Schlucken lernen könne, diese zu verändern. Einmal im Training erlernt, würde dies in die gewohnte Haltung übergehen - und so ein Leben lang im Gedächtnis bleiben. Allerdings bezahlten Eltern für die geraden Zähne ihrer Kinder viel Geld und verlangten deshalb, dass die Behandlungsdauer minimal geringgehalten, und dies mit möglichst minimalem Aufwand vonstattengehen solle. Wenn man versucht, ein Geschäft zu führen, in dem man es oft mit Kindern zu tun hat, die nicht willens sind, mitzuarbeiten, in einer Welt, in der Kinder immer teurer werden, liegt die Antwort auf der Hand. Zudem ist es insbesondere bei solchen Kindern schwierig, die Funktion und Haltung von Zunge, Wangen und Kiefer zu verändern. Wir sprechen hier über Muster, die derart tief im Unterbewusstsein verankert sind, dass es fast unmöglich scheint, diese zu verändern. Insbesondere, wenn der Mund- und Kieferaufbau und der Platz für die Zunge nicht verändert werden. Wir wissen jedoch, dass Zähne, Zahnfleisch und Knochen in einem Balancefeld zueinanderstehen und es erscheint eigenartig, dass gerade Ärzte, also Fachleute, zu einer permanenten Retention raten, ohne den Versuch zu unternehmen, die Balance zwischen Zunge, Wangen und Kiefer zu verändern. Sehr wahrscheinlich können Zähne mittels Retainer aus dem Balancefeld gehalten werden, jedoch ist es nicht möglich, ebenso den Kieferknochen und die unterstützenden Weichgewebe auf die gleiche Art und Weise in Position zu halten. Nach einiger Zeit verlieren die Zähne – dies ist nachweislich belegt – jeglichen Halt.
RS: Ist eine lebenslange Retention nach einer kieferorthopädischen Behandlung wirklich notwendig? Wieso bestehen die meisten Kieferorthopäden darauf?
MM: In der Medizin geht es darum, die Ursachen eines Problems zu behandeln. Zahlreiche qualitative Studien in renommierten Fachzeitschriften zeigen deutlich, dass eine Fehlstellung der Zähne vorwiegend auf äußere Einflüsse zurückzuführen ist. Unsere heutige Lebensweise hat mittlerweile nur noch sehr wenig mit unserer früheren Lebensweise gemein. Man hat offen eingestanden, dass die Fachdisziplin der Kieferorthopädie in nur etwa 5% der Fälle die wahren Ursachen eines Problems erkennt. Wenn die wahre Ursache nicht erkannt wird, dann ist es auch nicht möglich, das eigentliche Problem zu behandeln. Wenn also nur auftretende Symptome behandelt werden, dann ist demnach eine lebenslange Retention notwendig. Erstaunlicherweise hatten unsere Vorfahren und haben alle anderen 5.400 Säugetierarten immer noch eine ideale Zahnstellung, und das ihr Leben lang. Es ist bemerkenswert, dass nur diejenigen, die einer unnatürlichen Lebensweise nachgehen, Zahnfehlstellungen aufweisen.
RS: Zusammenfassend gesagt: Wo hält man sich bei der kieferorthopädischen Behandlung an konventionelle Behandlungsverfahren und wo kommt man davon ab?
MM: Wir verwenden herausnehmbare Zahnspangen, um Zähne zu verschieben, wir zielen darauf ab, die Maxilla aufzuweiten und Zähne so in ihre ungefähre Position zu führen. Das alles ist der konventionellen Kieferorthopädie sehr ähnlich. In vielen Fällen wird eine Zahnfehlstellung herbeigeführt, um eine Veränderung, also eine Nachentwicklung und eine Rotation der Mandibula, wie zum Beispiel einen anteriror offenen Biss, zu bewirken. Wir führen einen Zungenschub herbei, durch den wiederum die Maxilla nach oben und nach vorne hin verlagert werden kann. Wir benutzen eine Apparatur, die wie eine funktionelle Apparatur aussieht. Jedoch handelt es sich de facto um eine Haltungsapparatur. Sie SCHIEBT die Mandibula nicht nach vorne. Es ist unangenehm, wenn der Patient nicht mittels seiner eigenen Muskulatur den Unterkiefer nach vorne schiebt. Dabei verrichtet die Muskulatur die eigentliche Arbeit, die Apparatur hingegen ist weitestgehend passiv. Mit der Zeit wird der Muskulatur so eine Haltung beigebracht, die sie ein Leben lang im Gedächtnis speichert. Dabei ist keine minutiöse Ausrichtung der Zahnreihen beabsichtigt. Es ist notwendig, dass die Zähne die Möglichkeit haben, sich selbst ausrichten zu können. So mag vielleicht keine ideale Ausrichtung der Zähne erzielt werden, jedoch wird dadurch erreicht, dass die Zahnreihen stabiler sind, als sämtliche Zahnausrichtungen, die mittels einer festen Zahnspange hergestellt werden. Man kann nicht die Hausaufgaben für jemand anderen erledigen. Wir glauben, dass die kieferorthopädischen „Normen“ irreführend sind. Im Vergleich zur „Norm“ oder zum „Ideal“ unserer Vorfahren, ist die Maxilla des modernen Menschen in den meisten Fällen insuffizient entwickelt. Wir bewegen den vorderen Oberkiefer bei jedem Patienten nach vorne, dessen Zahnfehlstellung die Klasse II zugeordnet wird. Der erste Schritt in der klassischen Biobloc-Therapie der Orthotropics besteht darin, die Schneidekanten der oberen Vorderzähne facial zu proklinieren. So entsteht aus einer Fehlstellung der Klasse III eine Klasse I. Aus einer Fehlstellung der Klasse I eine Klasse II, und aus einer Klasse II eine ausgeprägte Klasse II. Dies ermöglicht uns, den Oberkiefer ein erhebliches Stück nach anterior zu verlagern, sodass die Atemwege mehr Platz bekommen und eine Expansion in sagittaler Richtung erreicht wird.
Übersetzung aus dem Englischen: Sibylla Wolfgarten (M.A. Übers.)
Interview with Mike Mew (MM) by Rainer Schöttl (RS) 2019
RS: The title you chose for your lecture is „Why teeth grow crooked, why we straighten them and why they don’t stay straight“. Conventionally, crooked teeth are regarded as the result of crowding due to tooth size arch size discrepancy. Since this was assumed to be a genetic deficit, the proposed solution was to remove a sufficient number of teeth in oder to resolve this discrepancy, usually two or four bicuspids. What is different with your approach, why do teeth actually grow crooked?
MM: We view the whole problem very differently. The research demonstrates that only 1000 years ago almost every single person, who had all 32 teeth (and most people did), had all of them working and in function, usually with significant space behind the wisdom teeth. It is vital that we understand why there has been this dramatic change. Many people not only have inadequate space for 4 premolars but also for their wisdom teeth. There is no credible evidence to suggest that genetics plays any roll in this change, and medicine is about treating the causes of a problem. The two most likely causes are a change in masticatory effort and oral posture. We have moved from a very hard tough, low-calorie diet to a very soft (often fluid) calorie rich diet, at the very point where we need less calories. To gain 100 calories 10,000 years ago required some chewing, whereas one can of coke or cafe latte will easily exceed this with zero masticatory effort. Use it or lose it. Then we have seen a near epidemic in allergies and nasal congestion. It is almost normal for young infants to have several episodes of complete nasal blockage, lasting several days, even in the first year of life. If you cannot breath out of your nose you have two options; one is to lower your tongue off your palate, break lip seal and open your mouth, the other is to die. The will to live is so strong that what starts as a necessity can quickly become a habit. If anyone rests with 1) a lower tongue position and 2) incompetent lips while also having 3) weaker masticatory muscles, then their face lengthens. Watch someone who has a stroke. Even at 80 years old, one side of a person’s face will lengthen, and this is just a change in the muscles of facial expression. You only have so much face, if it lengthens it will be narrower and shallower, with less cross-sectional area, leaving less space for the teeth, tongue and airway. It is a little more complicated but in essence this is the cause of malocclusion, and airway problems. This is not as obvious as to some extent, everyone is affected.
RS: The fact that teeth move in response to forces applied to them is the basis for orthodontics. Why do you think the soft tissues in and around the mouth have been negated for so long as a source of such forces?
MM: The orthodontic speciality has been led by some charismatic individuals, possibly the two most polarised would be Angle and Fränkel. One used a mechanical devise to directly force teeth into position and one used appliances which changed the balance position of the soft tissues, to tip the balance, so that the teeth aligned naturally, but secondary to a change in function and posture. Frankel went further, by making it uncomfortable to engage the facial musculature during a swallow it would teach someone to change, as a lesson learnt could be a lesson learnt forever. However, parents were paying for straight teeth, they wanted this done in the minimum time and as easily as possible. If you are trying to make a business treating often uncooperative children in a world where children are increasingly preciouses, the answer is obvious. Also, it is difficult to change people’s oral posture and function, especially in uncooperative children. These are such deeply rooted subconscious patterns, which occur all the time and are very hard to change, especially if the oral structure and tongue space is not also changed. However, we know that the teeth, gums and bone exist within this balance zone and it seems strange that doctors, professional people, are recommending permanent retention, without attempting to change this. It is very possible to hold the teeth out of the balance zone with retainers but you cannot hold the bone and supporting tissues in the same way, and over time the teeth will (and there is good evidence building that they are) being left without any support.
RS: Is life long retention really necessary after orthodontic treatment? Why do most orthodontists insist on it?
MM: Medicine is about treating the causes of a problem. The weight of quality research in respected peer reviewed journals clearly demonstrates that malocclusion is of predominantly environmental origin. A mismatch from how we evolved to live to how we live now. It is openly admitted that the speciality only understands the cause of the problem in about 5% of the cases. If you don’t understand the cause, then you cannot correct the underlying problem and are treating symptoms, thus you will need permanent retention. Interestingly our ancestors and the members of the other 5,400 species of mammals had, or still do have, well aligned teeth from birth to death. Interestingly the few that don’t are all living unnatural lifestyles.
RS: In a nutshell, where does orthotropic treatment adhere to conventional orthodontic protocols and where does it depart from them.
MM: We use removable appliance which move teeth, we aim to open the maxillary suture and we herd teeth into approximate positions. This is all similar to conventional orthodontics. However, we often create a malocclusion in order to stimulate change and an autorotation of the mandible, such as creating an anterior open bite. We encourage a tongue thrust, as when redirected this can move the maxilla up and forwards. We use an appliance which looks like a functional appliance, but is in fact a postural appliance. It does not HOLD the mandible forward, it is uncomfortable if the patient does not hold their mandible forwards with their own muscles. They do the work, the appliance is largely passive. Over time this teaches them a lesson, with the aim that a lesson learnt can be remembered forever. We do not try to gain detailed alignment of teeth, an individual needs to do this themselves. They might not gain as perfect alignment but what they do achieve is likely to be more stable than any alignment that was gained for them with fixed braces. You cannot do someone’s homework for them. We believe that the orthodontic “normals” are misleading. Compared to an ancestral normal (or “ideal”) the maxillas of everyone alive in a modern society is set back. We move the upper anterior forward in everyone including a class II. The first step in classic Biobloc orthotropics is to procline the upper front teeth, with the aim of making a class III a class I, a class I a class II and a class II a sever class II. This allows us to move the mandible a considerable distance forwards, opening the airway and gaining significantly sagittal expansion.